Rundbrief »KDV im Krieg« - September 2016

Rundbrief »KDV im Krieg« - September 2016

Syrien: Zwangsrekrutierung junger Männer auf allen Seiten

von Jenny Jounyieh

(10.05.2016) Seit dem Ausbruch des Bürgerkrieges in Syrien zwingen nach Angaben von BeobachterInnen vor Ort Soldaten der Regierungsarmee Zivilisten dazu, insbesondere junge Männer und Studenten, der Armee beizutreten. Sie sollen in den von der Regierung kontrollierten Gebieten gegen die Gegner von Präsident Bashar al-Assad kämpfen.

AktivistInnen bestätigten, dass das Wehrpflichtgesetz der Regierung dazu geführt hat, dass eine große Zahl junger Menschen aus dem Land geflohen ist. Die Verbliebenen werden zu Opfern von willkürlichen Verhaftungen und Entführungen. Die Wehrpflicht wird vor allem von den syrischen Streitkräften eingefordert, neben anderen bewaffneten Gruppen.

Aufgrund der fest installierten Checkpoints an den Zugängen der Städte können sich junge Menschen kaum außerhalb der staatlichen Kontrolle bewegen. Die Soldaten der Regierungsarmee greifen zudem in das tägliche Leben der syrischen Bewohner ein und schikanieren sie mit elektronischen Scans.

Die Sicherheitskräfte Syriens führten Dutzende von „Verhaftungsrazzien“ in verschiedenen Gebieten im vom Krieg zerrissenen Land durch, um junge Männer einzufangen und sie zur Ableistung der Wehrpflicht zu überstellen.

Albtraum Haft

„Wenn mein Sohn das Haus verließ, um zur Universität zu gehen, ich hatte schreckliche Albträume, bis er zurück war“, sagt Oum Ahmed, Mutter von zwei Söhnen. Einer von ihnen verlor im Krieg sein Leben, der andere ist Student. „Täglich sehe ich, wie Einheiten der Regierung junge Menschen an den Checkpoints erpressen und erniedrigen, manchmal auch schlagen, nur weil sie nicht zur Armee gegangen sind“, führt sie aus.

Junge Menschen werden an den Checkpoints geschlagen

Wenn ein junger Mann einen Checkpoint der Regierungsseite passiert, wird von ihm verlangt, seinen Ausweis und seine Militärdokumente vorzuzeigen. Damit wird überprüft, ob er von den Sicherheitsdiensten gesucht wird oder Militärdienst abzuleisten hat. Aber die Mehrzahl der jungen Menschen wurde von den Sicherheitskräften der Regierung verhaftet, weil sie eine politische Meinung geäußert hatten oder weil jemand sie bei den Sicherheitskräften angeschwärzt hat, so ein Aktivist. Isam Doumani, ein Student, sagt: „Es nervt wirklich, weil du nicht weißt, ob jemand eine Aussage gegen dich gegenüber dem Sicherheitsdienst der Universität gemacht hat. Junge Männer sind ständig der Gefahr ausgesetzt, in Damaskus von regierungsnahen Sicherheitsdiensten verhaftet zu werden. Glücklich sind die, die ins Ausland gehen konnten.“

Syrische Streitkräfte erpressen Bürger

In den unter der Kontrolle der Regierung stehenden Gebieten unterliegen junge Männer auch der Gefahr, an den Checkpoints der syrischen Armee erpresst zu werden, berichten Augenzeugen, die anonym bleiben wollen. „Soldaten zerreißen manchmal Ausweise, wenn man ihnen kein Geld zahlt und sie besticht, um den Checkpoint passieren zu können.“ Ein Soldat der Regierungsarmee brüllt, während er Geld verlangt: „Wir beschützen Euch und Eure Familien. Wir verdienen nicht genug, um unsere Familien zu ernähren.“

Doumani berichtet weiter, dass „einige Soldaten auch Vereinbarungen mit Taxifahrern haben, damit Passagiere Geld zahlen, um eine Anklage wegen Terrorismus zu vermeiden“. „Während der zerstörerische Krieg in Syrien fortgesetzt wird, folgen viele bewaffnete Gruppen der Strategie der Regierung, junge Männer zum Beitritt in ihre Einheiten zu zwingen“, betont Doumani. „Der Konflikt wird wahrscheinlich alle Bereiche der syrischen Zivilgesellschaft zerstören.“

Syrisch-kurdische Gebiete

Im Nordosten Syriens, der von der Partei der Demokratischen Union (PYD) und anderen mit ihr verbündeten Parteien regiert wird, wurde 2014 vom Gesetzgebungsrat ein Wehrpflichtgesetz verabschiedet. Das Gesetz benennt die „Pflicht zur Selbstverteidigung in den syrischen Gebieten, die unter der Regierungsgewalt der ‚Demokratischen Selbstverwaltung‘ stehen“. Das Gesetz verpflichtet in der Region lebende Familien einen/eine ihrer 18 bis 30 Jahre alten Angehörigen zur Verteidigung zu entsenden. Der Dienst dauert sechs Monate, entweder in einem Stück oder in mehreren Zeiträumen auf ein Jahr verteilt.

Das Gesetz benennt Ausnahmen wie „Untauglichkeit oder Krankheit“. Es gibt auch Ausnahmeregelungen für Familien, wenn Angehörige schon zuvor bei Einheiten der der PYD nahestehenden Asayish, der Kurdischen Befreiungsbewegung (KCK), den Volksverteidigungseinheiten (YPG) oder den Frauenverteidigungseinheiten (YPJ) sind.

Auf der anderen Seite verweigerte der Kurdische Nationalrat (KNC) in Syrien offiziell die Anerkennung des Wehrpflichtgesetzes und weigerte sich auch kürzlich, der von der PYD geführten Selbstverwaltung im Norden Syriens beizutreten. Eigene Mitglieder wurden sogar aus der Organisation ausgeschlossen, als sie sich der Verwaltung anschlossen.

Hunderte syrische KurdInnen wurden in den letzten fünf Jahren während der Auseinandersetzungen mit radikalen islamistischen Gruppen und Oppositionellen im Norden und Nordosten Syriens getötet. Infolgedessen flohen Tausende aus der kurdischen Region in die benachbarten Länder.

Gebiete unter Kontrolle von ISIS

Im April 2015 gaben radikale Gruppen des Islamischen Staates (ISIS) eine Entscheidung bekannt, mit der sie für die Städte Jarablus, Manbij, Raqqa und Deir ez-Zor im Norden Syriens die Einführung der Wehrpflicht erklärten.

Das Wehrpflichtgesetz trat zwei Monate später in Kraft. Hunderte junger Männer begannen, an der Ausbildung zum Dschihad teilzunehmen, während diejenigen, die sich weigerten oder zu fliehen versuchten wegen „Verrats“ exekutiert wurden.

„Dutzende junger Männer wurden von den Polizeikräften von ISIS unter dem Vorwurf verhaftet, die ‚Regeln der Gruppe zu verletzen‘. Sie wurden wegen Verrats angeklagt, weil sie sich der Wehrpflicht entzogen hatten“, so Medienaktivist Nasir Taljbini.

„ISIS sieht die Wehrpflicht als ein Mittel an, um ‚Muslime für den Dschihad gegen die Feinde des Kalifat zu mobilisieren‘“, erklärte ein Augenzeuge in Raqqa, faktisch die Hauptstadt des ISIS in Syrien.

Das Wehrpflichtgesetz hat Panik unter den Bürgern in Syrien ausgelöst, insbesondere bei denen, die versuchen, sich aus dem bewaffneten Konflikt herauszuhalten. Die Wehrpflicht, die von den verschiedenen Seiten im Konflikt in Syrien auferlegt wird, hat Tausende junge Männer zur Flucht getrieben.

Jenny Jounyieh, ARA News, Syrien: All parties to conflict in Syria using force to recruit young men. 10. Mai 2016. Übersetzung: rf. Der Beitrag wurde veröffentlicht in: Connection e.V. und AG »KDV im Krieg« (Hrsg.): Rundbrief »KDV im Krieg«, Ausgabe September 2016

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